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Der Mond und die Stille

 

Diese Geschichte spielt in der heutigen Zeit in Minnesota. Es geht um drei junge Geschwister (Alegra -16-, Lionel -13-, Samantha -8-), die mit dem Auto auf dem Weg nach Kanada sind, um ihren verrückt gewordenen Vater zu entfliehen. Doch während der Reise geschehen unerklärliche Dinge, die den Wahnsinn ihres Vaters weit übersteigen.

Genre: Mystery/Thriller

 

Samantha

 

Sam schaute auf. Sie näherten sich einer Tankstelle.

"Wie spät haben wir es, Ally...?", fragte sie und lehnte sich etwas nach vorn.

"Zwei Uhr morgens. Du solltest ruhig schlafen."

Sam hätte nicht gedacht, dass es erst zwei Uhr war. Die Fahrt seit dem Unfall mit dem Hund kam ihr länger vor. Doch irgendwie freute sie sich eine Tankstelle zu sehen. Ein Lebenszeichen in der Dunkelheit.
"Fahren wir dort vorbei?"

Lio drehte sich, wie gewohnt, genervt zu ihr um: "Das war der Plan, Sam! Wir werden Dich doch nicht in der Dunkelheit aussetzen."

Ally verdrehte die Augen: "Hör damit auf Lio, ich bin bereits müde genug."

Lio dreht sich wieder nach vorn. Nun waren sie angekommen und hielten neben einer Tanksäule.

"Ich werde etwas tanken und den Angestellten kurz was fragen. Bleibt Ihr solange im Auto", sagte Ally und stieg daraufhin aus. Lio blieb die ganze Zeit still auf seinem Platz sitzen und schaute aus dem Fenster. Sam schaute zu Nory. Die Kleine zeigte ebenfalls ein ruhiges Gemüt. Sie bewegte ihre Augen zu Sam, als sie bemerkte, dass ihre große Schwester sie anblickte. Dann wandte sich Sam Lio zu.

"Was glaubst Du, wird vom Geld übrig bleiben?", fragte Sam.

"Wenn es jetzt überhaupt reicht, haben wir schon Glück."

"Danke..."

Lio drehte sich um: "Wieso "danke"?!"

"Ich finde es schön, dass Du mir geantwortest hast, ohne böse zu sein", antwortete Sam. Sie gab ihm ein Lächeln, welches in ihrem Gesicht eine Erleichterung auszudrücken schien. Er jedoch drehte sich mit einem verständnislosen Blick wieder um. Als Sam nun aus dem Fenster schaute, beobachtete sie, wie Ally den Laden betrat und den Angestellten ansprach. Ein älterer Mann, der einen sehr lustlosen Eindruck machte. Er bewegte seine Lippen nur langsam beim Reden und sein unfreundlicher Blick änderte sich nie. Man konnte Ally ansehen, dass ihr unwohl war bei der Unerhaltung. Doch sie schien nicht locker zu lassen. Sie hielt Chads Halsband in der Hand.

"Sie fragt ihn nach dem Besitzer von Chad, oder?", fragte Sam.

"Ja, wahrscheinlich... MUSST Du dabei seinen Namen nennen?!"

"Es... ist doch sein Name... von dem Hund...?"

"Ja, aber er ist tot. Sag nicht seinen Namen."

Samantha verstand nicht, weshalb Lio darüber so aufgebracht war.

"Wieso?", hakte sie nach.

"Tu es einfach nicht", sagte Lio genervt und schlang seine Arme um seine aufgestellten Knie. Die letzten Worte wurden leiser. Hatte er vor etwas Angst?

Sam entschied sich zwar, nichts mehr zu sagen, doch sie musste grübeln. Wieso hatte Lio Angst? Das erste mal, dass sie ihn ängstlich sah, war an jenem Abend zuhause. Er sprach zwar nie darüber, doch was Sam an diesem Abend mithören konnte, hörte sich schrecklich an. Und da ging es wieder los... in ihrem Kopf...

 

Seit ihre Mutter nun seit vier Jahren nicht mehr da war, machte sich in Sam eine große Traurigkeit breit. Zwar hatte sie immer Nory bei sich, doch sie kam sich von allen anderen verlassen vor. Sie hoffte immer darauf, dass ihr Vater sie irgendwann in den Arm nehmen würde. Doch er hatte bisland nicht ein einziges Wort gesprochen und auch sonst nichts mit seinen Kindern zutun gehabt. Er tat nur das nötigste für sich und saß dann immer für den Rest des Tages da und starrte aus dem Fenster. Sam musste seitdem selbst mit ihren Gefühlen zurechtkommen. Denn Ally war die meiste Zeit am lernen oder arbeiten. Lio war hingegen stets wütend und lenkte sich mit irgendwelchen Basteleien ab. Seit dem Vorfall in der Schule war er nur noch wütender. Und jetzt auch auf Sam.

Am liebsten würde sie gar nicht mehr in die Schule gehen, denn sie hatte seit dem Schwarzen Tag keine Freude mehr an solchen Dingen. Ally allerdings zwang Lio und sie dazu weiterhin zu lernen. Und nach einer Woche Trauer mussten sie seitdem auch wieder los.

Der Tag war grau und es regnete durchgehend. Sam vebrachte ihre Zeit damit im Wohnzimmer für Nory neue Sachen anzuziehen. Sie hörte langsame Schritte und drehte sich in Richtung Tür um. Sie sah Dads Bein, das gerade hinter der Wand verschwand. Wahrscheinlich ging er in die Küche um was zu essen. Eins der wenigen Dinge, wofür er sich noch bewegte. Gleich danach kam Lio rein und schmiss sich aufs Sofa. Seitdem war Dad nicht mehr zu sehen. Nachher sah sie mit Nory an ihrer Seite fern. Lio war im Bad, was man an den lauten Türknallen immer erkennen konnte. Sie hörte wieder Schritte. Dad stand nun an der Tür und starrte sie an.

"Dad?" Sam wusste, er würde nicht antworten. Doch es war immer die Hoffnung da, dass er sich eines Tages wieder ändern würde. Dann müsste auch nicht mehr Ally für sie sorgen und alle könnten wieder fröhlicher sein.

Lio kam zurück, drängte sich an Dad vorbei und schmiss sich wieder aufs Sofa. Dad ging daraufhin weg. Sam wunderte nichts mehr, was er tat...

Ein wenig später hörte es auf zu regnen und Lio ging raus. Er sagte, er wolle sein Skateboard ausprobieren. Sam hatte Nory im Arm und war eingeschlafen. Ein Geräusch von knirschendem Holz erklang und sie wachte auf. Es waren Dads Schritte. Er stand vor ihr und schaute wieder mit einem gefühlslosen Blick auf sie herab.

"Was ist, Dad?" Sie konnte sich nicht mal richtig aufrappeln, da hatte er schon ihren Unterarm ergriffen und zog sie hoch.

"Aah!! Was tust Du, Dad?!", schrie Sam auf. Sein Griff war fest und rücksichtslos. Sie drückte Nory fest an sich, damit sie nicht fiel. Dad zog sie weiter und achtete gar nicht darauf, ob es ihr weh tat. Ihr Handgelenk brannte bereits und sie spürte etwas knacken, mit jedem Mal wenn er zog. Seine Schritte wollten nicht halten. Sam hatte Angst.

Sie hörte die Haustür aufspringen und da kam Lio...

 

Sam zuckte auf, als Ally die Tür zuzog.

"Hier", sagte sie und gab Sam einen Schokoriegel nach hinten. Lio gab sie auch einen.

"Er kennt den Hund. Seine Besitzerin ist wahrscheinlich in einem Gasthaus nicht weit von hier."

"Wirklich?", fragte Lio.

"Ja, wirklich. Wieso fragst Du?", wollte Ally wissen.

"Naja... ein Gasthaus in dieser Gegend..."

"Ach, aber dass die Tankstelle hier steht, ist normal, oder was?" Ally schüttelte den Kopf und rüttelte am Schlüssel.

Warum sollte es denn nicht normal sein, dass es hier eine Tankstelle gab, fragte Sam sich.

"Sollte hier etwa keine Tankstelle sein?"

"Doch. Es ist alles in Ordnung", antwortete Ally und ließ den Motor an.

Ally und Lio schienen sich immer in dem, was sie sagten, zu verstehen. Doch Sam wusste nicht immer wie sie manche Dinge meinten. Und wenn sie fragte, kamen meistens Antworten, die sie noch mehr verwirrten. Sie hatte das Gefühl, ihre Geschwister betrachteten es einfach als unwichtig, ihr alles zu verraten.

"Ist ok... ich weiß, dass es nicht normal ist...", sagte sie schließlich, ohne es hörbar laut sagen zu wollen.

Ally und Lio schauten sich mit einem Stirnrunzeln an, bevor sie weiterfuhren. Als sie die Tankstelle verließen, schaute Sam noch einmal aus dem Rückfenster. Der Angestellte stand ganz nah am Fenster und beobachtete sie genau, wie sie wegfuhren. Irgendwie fühlte sich Sam komisch dabei, sogar etwas ängstlich. Ihr kam dieser Ort gleich merkwürdig vor. Etwas zog an ihrem Schal. Sie schaute hinab, es war Nory. Etwas kam ihr dabei erneut seltsam vor... Seit wann hatte sie den Schal an? Soweit sie sich erinnern konnte, hatte sie bis auf ihre Wollmütze nur ein Shirt und eine mittellange Jeans an. Das war auch der Grund, weshalb sie ein wenig fror. Die Nacht konnte so kalt werden, aber nie war sie so kalt wie hier.

"Im Norden ist es immer kälter, sagten sie im Fernsehen...", äußerte Sam sich, mit der Mühe es nicht wie eine Frage aussehen zu lassen. Denn wenn sie etwas fragte, reagierten die anderen beiden genervt.

"Dann muss das hier schon der Nordpol sein!", bemerkte Lio, als dann auch Ally was beitrug:

"Das stimmt schon, aber normalerweise sollte es noch nicht so kalt sein wie jetzt. hat wohl mit dem Klimawandel zutun, oder so."

"Klimawa...?", begann Sam bereits nachzuhaken, als sie ihren eigenen Satz gleich wieder abbrach. Ihre neuerdachte Strategie, aus ihren Geschwistern was rauszukriegen, ohne als Nervensäge dazustehen, hatte schon einen guten Anfang genommen. Den wollte sie nicht wieder zerstören.

Sam musste grinsen. Das war ein gutes Gefühl.

 

 

Alegra

 

Skuriler ging es nicht mehr, dachte sich Ally, als sie soeben die Tankstelle verließen. Dieser abartige Blick des alten Mannes, ging ihr für eine Weile nicht aus dem Kopf. Ein Gesicht, dessen Augen Verachtung fühlen ließen und dessen Mund sich in einer ständigen Kaubewegung befand. Sie blieb dort nur solange wie sie musste. Diese merkwürdigen Leute, mit denen es Ally seit ihrer Flucht zutun bekommen hatte, haben in ihr ein ungutes Gefühl hinterlassen. Sie kannte die Menschen, dachte sie. Denn sie arbeitete in einer Umgebung, in der sie oft mit ihnen zutun gehabt hatte. Doch trotzdem überraschte sie vieles... die Eigenarten einiger bestimmer Menschen und deren Verhalten nach außen hin. Auch wenn sie ihre irritierten Gefühle darüber zu verdrängen versuchte und sich auch sonst bemühte, keine Schwächen oder Emotionen gegenüber ihrer Geschwister zu zeigen... sie waren da. Sie glaubte, wenn sie erst einmal bei Tante Claire ankämen, wäre das erste was sie täte, sich in einem Zimmer eingeschlossen auf ein Bett schmeißen und sich ausheulen. Und sie würde es lange tun... bis sämtliche negativen Gefühle zusammen mit den Tränen rausgespült wären... Doch da waren sie noch nicht. Sie musste nun die starke Ally sein. Vor allem für ihre Familie. Was Vater anging, war sie sich nicht sicher. Vater schien auch vor vier Jahren gegangen zu sein... seine Seele jedenfalls.

Ally hatte noch immer das Halsband von Chad in der Hand. Sie hatte es nicht bemerkt. Der Hund gehörte einer Frau mit dem Namen Jelice, sagte der abartige Angestellte. Sie sollte sich in einem Gasthaus entlang der Straße in Richtung Norden befinden. Das kam ihnen gerade recht, denn es lag auf dem Weg nach Kanada. Die Tankanzeige zeigte nun auf halbvoll, damit konnten sie ein gutes Stück fahren.

Alle waren für eine lange Zeit ruhig. Bis Sam was sagte:

"Wie spät haben wir es?"

"genau zwei Uhr", sagte Ally auf die Uhr schauend.

"Was, erst?"

"Ja... wir schauen wohl eindeutig zu oft auf die Uhr. Deshalb vergeht die Zeit nicht."

Da war sich Ally selbst nicht so sicher. Denn auch ihr kam die Fahrt bisher schon sehr lange vor. Sie schaute sich kurz um und sah, dass Lio schlief. Weit vor sich konnte sie schon ein paar Lichter ausmachen. Scheinbar näherten sie sich bereits der Gaststätte.

"Da ist es...", murmelte Ally vor sich hin.

"Können wir dort schlafen?", fragte Sam.

"Ich bin mir noch nicht sicher. Ich schaue es mir erst einmal an." Sie schaute wieder zu Lio.

"Lio... Lio, wach auf." Nach einer Weile wiederholte sie sich: "Lio... Lio!"

Lionel schien sehr fest zu schlafen.

"Hau ihn doch, das merkt er", bemerkte Sam. Ihr Aussage ignorierend rüttelte Ally mit ihrer freien Hand an ihrem Bruder. Er reagierte nicht. 

"Lio?!", brüllte sie immer noch an ihm rüttelnd.

"W... was ist mit ihm?!", kam es vom Rücksitz. Ally fuhr augenblicklich rechts ran und hielt. Nun rüttelte sie mit beiden Händen an ihm.

"LIO!!!"

Erst jetzt öffnete er die Augen. Er schaute sich verwirrt um, bis sein Blick schließlich an Ally haften blieb. Ally war erleichtert und wütend zugleich.

"Was... was ist...?", fragte er in einem verschlafenden Ton.

"Alles in Ordnung?!"

"Ja... wieso sollte was nicht in Ordnung sein?"

"Was war los mit Dir?"

"Wie?"

"Was das eben sollte! Hast Du Dich etwa verstellt?! Wir sind vor Sorge beinahe gestorben!!", fauchte Ally ihn an.

"Hört auf!", schrie Sam und unterbrach die Konversation. Ihre Stimme klang dabei angegriffen. Sofort schauten Ally und Lio zu ihr.

Sam hatte die Lippen zusammengepresst und Tränen liefen ihr übers Gesicht. Sie musste ab und zu schniefen. Man konnte ihr ansehen, wie sehr sie vergeblich versuchte nicht zu weinen.

"Tut das nicht...", stammelte sie mit einem unterdrückten Ton.

In Ally fand ein Gefühlsumbruch statt. Die eben noch dagewesene Mischung aus Angst und Wut war plötzlich abgesunken. Es tat ihr weh, ihre Familie so zu sehen. Am liebsten würde sie ihnen diese Reise gar nicht zumuten und manchmal bereute sie ihre Entscheidung auch. Doch wusste sie gleichzeitig auch, dass eine andere Entscheidung zum größten Fehler ihres Lebens geführt haben könnte. Sie neigte sich nach hinten und wischte mit einer Hand die Tränen aus Sams Gesicht.

"Ist schon gut. Du hast Recht, Sam...", sagte sie mit einem bemühten Lächeln zur Aufmunterung ihrer Schwester. Schließlich wandte sie sich dann wieder Lio zu.

"Dir geht es gut, ja?" Dabei ahnte sie, dass sie unsicher wirkte.

"Ja... mir geht es gut", antwortete Lio, der sich wohl wie in einem Verhör vorzukommen schien.

"Dann geben wir das Halsband bei der Gaststätte ab und fahren dann weiter. In vielleicht zwei Tagen sind wir da."

Sie fuhren weiter und näherten sich der besagten Gaststätte. Es wirkte alt und war gänzlich aus Holz. Das Licht trat durch Löcher in der Wand von innen heraus und warf ihren Schein auf die Straße. Das Haus protzte nur so vor Lebhaftigkeit. Die Lichter schienen in jedem Raum an zu sein und der Hauptraum, der sich gleich hinter dem Eingang zu befinden schien, war voller Leute. Zwei Kerle standen vor dem Eingang und unterhielten sich. Dabei rauchten sie. Es war ein kompaktes Gebäude und Ally konnte sich nicht vorstellen, dass all diese Menschen darin Platz zum schlafen hätten. Die Meisten machten wohl nur Rast oder blieben die ganze Nacht wach. Letzteres konnte sie sich eher vorstellen, wenn sie die Leute, die sie durch das Fenster sehen konnte, nach der Erscheinung beurteilen müsste. Biker, Landarbeiter und weitere, die sie nicht sofort ausmachen konnte. Das Komische war nur, dass um das Gebäude weit und breit gar kein Fahrzeug geparkt war. Es musste wohl einen versteckten Parkplatz dahinter geben. Aber das spielte keine Rolle, da sie nicht vor hatte, hier lange zu bleiben. Sie hielt an der Straße gegenüber dem Gebäude und zog schon den Schlüssel raus. Die zwei Männer vor dem Eingang schauten zu ihr rüber.

"Bleibt hier im Auto, es wird nicht lange dauern. Ich gebe der Frau nur das Halsband zurück, sage ihr was los ist und komme dann schleunigst wieder zurück", sagte Ally, während sie mit einer Hand nach dem Halsband griff, das sie zuvor in das Türfach gesteckt hatte.

"Können wir nicht auch hier schlafen?"

"Nein, Sam. Es ist zu voll hier", sagte Ally, während sie sich ihre braunen, kurzen Stiefel anzog, die sie noch im Auto hatte. Darin fühlte sie sich einfach sicherer. Kurz darauf stieg sie aus dem Wagen. Bevor sie die Tür schloss, schaute sie nochmal rein: "Bleibt hier, verstanden? Ich kann das Auto auch abschließen, damit..."

"Nein, das brauchst Du nicht. Keine Sorge", winkte Lio ab. Einen Augenblick wartete Ally noch an der Stelle und drehte sich dann langsam der Gaststätte zu und ging los. Mit jedem Schritt den sie machte, spürte sie die Blicke der beiden Raucher immer doller an ihr haften. Sie konnte die beiden nun auch erkennen. Der eine war bärtig und machte einen ungepflegten Eindruck. Der andere war ein Afroamerikaner und trug nur ein dünnes Hemd, das im Brustbereich aufgeknöpft war. Ihm schien die Eiseskälte nichts anzuhaben. Ganz im Gegenteil, seine Haut glänzte vor Schweiss. Die beiden wechselten keine Worte mehr, sondern schauten nur noch permanent zu Ally. Sie selbst versuchte nicht hinzuschauen. Solche Situationen kannte sie aus dem Fernsehen und hoffte nur, dass sie keine dummen Sprüche oder gar Handgreiflichkeiten erwarteten. Ihre Blicke wanderten nach links und rechts, während sie auf der rechten Seite einen großen Stein liegen sah. Das würde er sein. Im Notfall würde sie sich zu diesem Stein durchkämpfen und ihn als Waffe nutzen. Sie erschrak innerlich etwas bei dem Gedanken. Nie hatte sie gedacht mal so etwas zu planen. Wie gerne sie doch jetzt daheim wäre...

Nun war sie kurz vor dem Eingang und die Kerle waren nur einen Schritt weit entfernt. Noch immer starrten sie. Ally ließ ihren Blick geradeaus gerichtet und ging an ihnen vorbei. Als sie das Haus betrat, kam ihr ein übel riechender Geruch von Rauch, Alkohol, Schweiss und etwas anderem entgegen, das für sie undefinierbar war. Sie verzog das Gesicht und sah kurz hinter sich. Die Männer unterhielten sich wieder beim rauchen. Sie atmete durch und war erleichtert. Nun musste sie nur noch nach Jelice fragen und ihr das Halsband überreichen. Sie wollte sich beeilen und bereute es, das Auto nicht abgeschlossen zu haben. Sie hatte ein ungutes Gefühl dabei, ihre Geschwister allein im Auto zu lassen.

Der Raum, in dem sie sich nun befand war nicht sonderlich groß. Vom Eingang aus gesehen, befand sich links eine Treppe, die nach oben führte und rechts estreckte sich ein paar Meter weiter eine Theke ins Rauminnere. Hier und da waren Tische und Stühle durcheinandergestellt und allesamt besetzt. Es war laut und der Grund dafür waren die Stimmen der grölenden Gesellschaft. Musik lief keine, glaubte Ally. Diese wäre ohnehin nicht mehr zu hören gewesen. Es saßen an dem einen oder anderem Tisch auch Frauen unter den Männern und verhielten sich ebenso rücksichtslos laut fluchend und brüllend. Gläser wurden auf den Tisch gehauen, Bier schwappte über und es kümmerte niemanden. Selbst die stämmige Gastwirtin stand nur gelangweilt da und spielte an der Theke mit einem der Gäste Karten. Zwischen ihren dicken, roten Lippen steckte eine Zigarette. Ihre Haare waren blond, schulterlang und lockig, das Gesicht viel zu doll geschminkt. Ally ging langsam durch den Raum und erkannte die Gastwirtin nicht auf Anhieb. Schließlich drängelte sie sich durch und trat zu ihr ran.

"Entschuldigen Sie...", begann Ally eine hoffentlich funktionierende Konversation. Die Frau reagierte nicht. "Ähm... hallo. Entschuldigung!", versuchte Ally es noch einmal. Nur die Augen der Frau bewegten sich zu ihr hin und sie schaute sie erwartungslos und ohne irgendeine Emotion an. Ally hielt es für das Beste, sofort zum Punkt zu kommen.

"Ich... suche eine Frau. Ihr Name ist Jelice."

"Jelice...", wiederholte die Gastwirtin und ihre Lippen waren das einzige, was sich bewegte. Ally sprach daraufhin weiter: "Ja... mir wurde gesagt, sie hält sich hier auf."

"Achja... Jelice..."

"Sie ist also hier?"

"Hm..."

Ally kam sich veralbert vor. Sie glaubte bereits, dass es keinen nüchternen Menschen mehr in diesem Haus gab. Sie lies der Frau noch Zeit zum denken, wollte dann aber wieder nachhaken. Doch kurz bevor sie den Mund öffnete und das erste Wort ertönte, richtete die Frau sich auf und sprach plötzlich laut: "JELICE! Ja, sie ist hier! Sags doch gleich!"

Sie schmiss ihre verbliebenden Karten gegen das Gesicht ihres Mitspielers und fluchte ihm was zu, was unverständlich klang. Dem Ton nach zu urteilen, musste es aber ein Fluchwort gewesen sein. Sie packte Ally am Handgelenk und wollte sie irgendwohin zerren, als diese sich aber weigerte und ihre Hand zurückzog. Die Frau drehte sich zu ihr um und schaute verdutzt.

"Willst Du Jelice sehen, oder nicht?"

"Ja", antwortete Ally. "Aber ich lasse nicht so mit mir umgehen!"

Ihre Stimme klang dieses Mal nicht mehr freundlich. Irgendwann war die Toleranzgrenze in Sachen Benehmen überschritten. Die Frau kam näher und reichte Ally die Hand.

"Ich bin Lucy. Verzeih, ich habe schon seit einer Woche Nachtschicht und bin ein wenig fertig." Sie gab ihr die Hand. Lucy konnte also doch etwas freundlich sein. Überzeugt war Ally nun zwar nicht, aber sie war nun bereit ihr zu Jelice zu folgen. Sie drängelten sich also durch die Leute, was dieses Mal leichter fiel. Sämtliche Leute schienen für Lucy Platz zu machen und wer es nicht tat, bekam sofort eine Klatsche samt Fluchwort um die Ohren gehauen. Ally musste leicht schmunzeln, aber war entschlossen, so schnell wie möglich wieder zu verschwinden, sobald sie Jelice das Halsband übergeben hatte. Ob es das wohl wert war? Sie hoffte, dass es in einigen Minuten vorüber war.

Sie gingen nun beide die Treppe hinauf. Die Stufen quietschten. Dieses Haus war anscheinend sehr alt und kaum bis gar nicht gepflegt worden, wie man an den lichtdurchdrungenden Löchern von außen erkennen konnte.

"Hier oben haben wir die Gästezimmer. Jelice hockt nur dort rum", sagte Lucy. Als sie oben waren, gingen sie den Korridor entlang, bis sie die letzte Tür erreicht hatten. In jedem Zimmer hatte Licht gebrannt, wie man an die unteren Türritzen erkennen konnte. Nur bei dem Zimmer nicht, vor dem sie gerade standen.

"Vielleicht schläft sie", bemerkte Ally.

"Pfft!", gab Lucy abwertend bei. Ob es nun Jelice oder Ally galt, wusste sie nicht. Dann begann sie ein paar mal an die Tür zu hämmern. "Jelice, hier ist jemand für Dich!"

Lucy schaute zu Ally rüber und grinste selbstzufrieden. Nun drehte sie den Türknauf und ließ die Tür langsam und knirschend aufgehen.

"Geh rein, sie erwartet Dich."

"Aber es ist stockfinster da drinnen", antwortete Ally. "Machen Sie doch das Licht an."

"Nein... Jelice mag es dunkel. Geh oder kehr um". Lucy war eine schräge und harte Nuss. Das wollte Ally sich jetzt nicht antun. Sie kehrte ihr den Rücken zu und wollte wieder gehen, als sie dann noch Chads Halsband in ihrer Hand bemerkte. Sie hatte es fast geschafft... sie musste nur reingehen, Jelice das Halsband in die Hand drücken und ihr sagen, dass ihr Hund tot war und es ihr leid tat. Das würde sie jetzt noch schnell tun! Sie ging also wieder zu der Tür hin... und musste an der Schwelle halten. Es war wirklich kaum was in dem Raum zu sehen. Bis auf ein paar Mondstrahlen, die in den Raum durch das Fenster schienen. Sie spielte wieder mit dem Gedanken umzudrehen. Das wäre auch wahrscheinlich das Beste. Wer wusste schon, bei welchen Verrückten sie sich gerade aufhielt! Sie wollte sich gerade umdrehen, als sie dann ein starker Stoß von hinten überraschte und sie ins Zimmer stieß. Sie stolperte und fiel, als daraufhin auch die Tür wieder zufiel. Das Umdrehen eines Schlüssels in einem Schloss vernahm sie noch, bevor sie begriffen hatte, was geschehen war. Schnell stand sie auf und rannte zur Tür. Sie rüttelte am Griff, doch bekam sie nicht mehr auf. Nach Hilfe zu schreien oder in Panik zu verfallen würde ihr nur noch mehr Probleme bringen, dachte sie. Das wollte sie nicht riskieren und atmete tief durch, mit dem Rücken an die Tür gelehnt. Sie bewegte sich selbst kaum und versuchte mit ihren Augen auszumachen, wo sich Jelice gerade befand. Noch konnte sie nichts erkennen. Vielleicht war auch niemand anderes mehr hier drinnen? Sie wollte es austesten...

"Jelice...?", fragte sie vorsichtig in die Dunkelheit. Als keine Antwort kam, atmete sie erleichtert durch. Doch nach ein paar Sekunden hörte sie zu ihrer Rechten das Auftreten zweier Füße, die auf den Boden drückten. Die Bretter knirschten.

Ally blieb für diesen Moment der Atem stehen und sie konnte noch gerade so einen Aufschrei zurückhalten. Wer war diese Jelice? War es überhaupt Jelice, die sich in diesem Zimmer befand? Und wieso hatte Lucy sie hier eingesperrt?

Ally gingen diese Gedanken durch den Kopf, ohne es selbst richtig wahrzunehmen. Sie konnte kaum atmen vor Angst. Ihr Herz pochte so doll, dass ihr die Brust weh tat. Die Schritte kamen näher...

 

 

 

 

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