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Lynceus

 

Diese Geschichte habe ich schon seit längerem geschrieben und wollte Lynx, den Luchs als Hauptfigur einen anderen Weg gehen. Weil ich das Gefühl hatte, größere Fehler bei der Erzählweise gemacht zu haben, habe ich dieses Projekt gecancelt. Hier ist alles zu sehen, was ich derweil von Lynceus geschrieben habe.

Genre: Abenteuer/Kinder

 

 

Es war Nacht und das unruhige Meer tobte um die Insel Anima. Vögel mieden in dieser Nacht aus unbekanntem Grund bestimmte Stellen der Insel und die Baumspitzen bogen sich mit der Richtung des Windes. Weit im Norden stieg Rauch aus dem hoch aufragenden Vulkan und sämtliche Dörfer der einheimischen Stämme trauten sich nicht ein Licht zu entzünden, aus Angst vor den unruhigen Lauten aus der Dunkelheit. Neben den aufgescheuchten Stimmen von Kleintieren und Vögeln erklang im dichtesten Geäst nahe der südlichen Küste der Insel ein Echo. Je mehr man dem Geräusch aus dem Blickwinkel eines Vogels folgte, umso mehr konnte man es als den wütenden Schrei einer Raubkatze deuten. Ein Schreien und Fauchen klang immer wieder auf und verhallte wieder. Auch Klopf- und Stoßgeräusche waren zu vernehmen. Es war ein Luchs in einer Falle. Allein inmitten eines dichten Waldes, wobei die Dunkelheit und das Mondlicht die einzigen anwesenden Beobachter waren. Wieder versuchte der Luchs aus der Falle zu entkommen und schaffte es nicht, da sein hinteres rechtes Bein darin eingeklemmt war. Die Falle war aus Holz und hatte zwei Klemmen, welche das Bein nicht verletzten, es aber festhielten. So sprang der Luchs erneut auf und krallte sich mit den Vorderpfoten an einen Baum in seiner Nähe, rutschte ab und landete wieder auf den Boden. Dieser Vorgang brachte das Tier zur Verzweiflung, doch es wollte nicht aufgeben.

Nach unzähligen weiteren Versuchen hielt das Tier schließlich inne und schnaufte erschöpft vor sich hin. Kraftlos sank es auf den vorderen Pfoten, doch kaum berührte es mit dem Körper den Boden, nahm es eine Bewegung hinter sich wahr und sprang ruckartig wieder auf. Die Ohren waren gespitzt und die scharfen Luchsaugen waren bereit, jede kleine Veränderung in den Gebüschen einzufangen. Und da war es!

Etwas bewegte sich mit sehr hoher Geschwindigkeit durch das Geäst, jedoch waren nur die Geräusche die es verursachte, zu vernehmen. Zu sehen war nichts. Ungläubig drehte der Luchs seinen Blick in alle Richtungen. Konnte er seinen Sinnen nicht mehr trauen? Die Büsche und von Bäumen abhängende Zweige raschelten immer noch kettenartig durch den Wald wo vorher noch die Geräusche herkamen. Etwas war dort. Und plötzlich erklang ein Schrei! Es war der eines Mannes und kam aus genau der Richtung, wohin die Strauchbewegungen deuteten. Wenn es etwas war, das es auf die Leben anderer abgesehen hatte, so war der Luchs auch nicht mehr sicher und sich dessen auch bewusst. Trotz seines Zustandes nahm es seine letzten Kraftreserven zusammen, drückte sich vom Boden ab und sprang, als wolle er seinem schlimmsten Alptraum entkommen.

Klack! Die Klemmen hatten sich ein Stück gelöst, als der Luchs sein Bein mit Schwung hindurch zog und klappten sofort wieder zu. Die leichte Lösung der Klammer hatte ausgereicht und die Raubkatze entkam der Falle, konnte jedoch wegen seiner Erschöpfung nicht mehr im Sprung abbremsen und landete hart auf die rechte Seite. Dem Tier war nur noch zum schlafen zumute. Es wollte einfach so liegen bleiben und neue Kraft schöpfen… doch es konnte nicht. Nicht, wenn es nicht sicher war. Die Minute auf dem Boden brachte wenigstens ein kleines Bisschen an Kraft zurück und der Luchs machte sich auf, dem Wesen zu folgen und herauszufinden, worum es sich dort handelte. Ob es nun seine Dummheit, Neugier oder was anderes war…

 

Ein Jäger vom Flussdorf war in dieser unruhigen Nacht im Wald unterwegs. Seine Gefährten befanden sich weiter entfernt und waren noch mit dem Wiederaufbau ihres Lagers beschäftigt, das unter dem Unwetter zu leiden hatte. Den Tag zuvor hatte er seine Fallen aufgestellt, um Beute oder Raubtiere zu fangen, die ihnen gefährlich werden konnten. Die Raubtiere wurden nur selten getötet und der Grund dafür war in der Regel die Selbstverteidigung. Deshalb wurden auch nur Fallen aufgestellt, die ihre Opfer nur festhielten und nicht verletzten. Das Leben der Tiere war für das Flussvolk etwas Wertvolles und durfte nur dann beendet werden, wenn es einen besonderen Grund dazu gab. Wie die Ernährung und die Verteidigung. Der Jäger näherte sich einer dieser Fallen, versteckte sich im Dickicht und schaute unauffällig durch die Büsche hindurch, auf das dort gefangene Tier. Ein Luchs. Diese Raubkatze musste es sein, die in letzter Zeit die Tiere in der Umgebung riss und zerfetzt liegen ließ, ohne auch nur einen Bissen von ihnen zu nehmen. Nach ihr hatte er schon eine ganze Weile gesucht, denn nun schien in seinen Augen das Problem um die toten Tiere gelöst. Er blieb hinter dem Gebüsch und holte langsam seinen Bogen hervor. Im Wald war es unheimlich still geworden, nur ein paar davonfliegende Vögel waren ab und zu vernehmbar. Mit einem hin- und herwandernden Blick tastete er die Umgebung ab. Der Grund für diese Stille und die Nervosität der Vögel konnte nur dieser Luchs sein, da war er sich teilweise sicher. Es war ihm zwar nicht bekannt, dass Raubkatzen dieser Art so etwas ausrichten konnten, doch anders konnte er es sich nicht erklären.

Nun zog er einen Pfeil aus dem Lederköcher auf seinem Rücken und legte diesen leise an. Die Luft anhaltend wollte er gerade damit beginnen, den Bogen zu spannen, bis ihn plötzlich ein Schatten von der Seite umstieß und ihn an seinem Bein mit sich riss. Vor lauter Schreck stieß der Jäger einen lauten Schrei aus und ließ seinen Bogen fallen.

Am Boden entlang geschliffen, spürte er jede Kante und jede Erhöhung, über die sein Rücken glitt. Seine Überraschung war derart groß, dass er nur einen Schrei von sich geben konnte und danach nur geschockt feststellen musste, was da wirklich mit ihm geschieht. Das Wesen, das ihn am Bein mit sich zog, war erstaunlich schnell und bewegte sich nur durch das Rascheln der Büsche begleitet, ziemlich leise. Als der Jäger versuchte seinen Kopf anzuheben, um zu erkennen, wer oder was ihn am Bein festhielt, streifte sein Körper über eine Erhöhung, weshalb er wieder hart auflandete, sich den Kopf an etwas hartem stieß und das Bewusstsein verlor.

 

Erschöpft setzte der Luchs seinen Weg in Richtung der Laute fort. Es war alles andere als klug, sich in diesem Zustand dorthin zu begeben, doch die Unwissenheit darüber ließ ihm keine Ruhe. Die weisen Meditatoren des Bergdorfes aus dem Norden sahen in diesem Raubtier schon längst etwas, das anders war, als bei seinen Artgenossen. Es hatte einen ausgeprägten Charakter und die Fähigkeit zu verstehen, was Menschen sagten. Doch das, was es besonders einzigartig machte, war die mysteriöse Gabe, Lebewesen zu durchschauen und hinter ihrem lügnerischen Schleier die Wahrheit zu sehen. Ob es an seinen Augen oder an seiner List lag, war selbst den Meditatoren nicht bekannt. Dieses Tier hatte sich alleine so entwickelt oder ihm wurde es mitgegeben. Die Meditatoren waren ein Kreis alter und sehr weiser Menschen des Bergvolkes, dessen Zahl an die 10 war und sie galten über ihren eigenen Stamm hinaus als die weisesten. Ihr Leben lang widmeten sie sich der Welt, dem Leben und dessen Sinn. Auch Moral und Ethik waren ein wichtiges Kernstück ihrer Philosophie. Nur gab es Stammeshäuptlinge, die sich daraus rein gar nichts machten. Ganz im Gegenteil. Es gab Stämme, die versuchten an mehr Macht zu gelangen, indem sie andere Stämme unterjochten. Dies passierte meist mit einem Angriff auf den jeweiligen Stamm. Die Unterjochten wurden somit Teil des siegreichen Stammes. So etwas geschah in letzter Zeit zweimal, doch das Steppenvolk war in Begriff, mit ihrem Kriegszug sehr weit zu gehen. Jedes der Völker hatte seine Bräuche, ihre Prinzipien und manchmal auch ganz eigene Regeln.

Der Luchs machte einen Schritt nach dem anderen, mit dem Bemühen lautlos zu bleiben. Er konnte spüren, dass sich mehr als eine Person in unmittelbarer Nähe befand. Er hielt inne, mit der einen Pfote in der Luft verweilend. Eine Lichtung nahe einem Fluss offenbarte sich. Da waren sie. Ein Jäger lag bewusstlos an einem Baum gelehnt, wohl abgeworfen. Etwas Schimmerndes beugte sich zu seinem Gesicht runter. Das schienen Lichtreflexe zu sein, welche die Unsichtbarkeit des Wesens verrieten. Nun geschah etwas, was aller Natur widersprach. Der Schimmer löste sich auf und änderte sich zu einem hellen Rauch, welcher eine menschliche Form annahm. Ein Mensch, der vollständig aus Nebel bestand, stand nun vor dem Jäger und fing an, einen grünfarbigen Dunst einzusaugen, welcher aus dem Mund des Jägers entwich. Es schien nichts Gutes zu sein. Während dieses Vorgangs bemerkte die nebelige Gestalt nicht, dass sich auf ihn eine Raubkatze stürzte, mit beiden Vorderpfoten nach vorn gestreckt und das Gesicht zu einer Zähne zeigenden Grimasse geformt. Ein Gebrüll des Luchses war zu vernehmen, als dieser

mit der ungewöhnlich massiven Nebelmasse zusammenstieß, sie zu Boden riss und sich an ihr festbeißend und krallend auf dem Boden Richtung Fluss rollte. Die Nebelgestalt gab Laute von sich, die der Stimme eines Menschen in einem Hohlraum glichen. Vermutlich konnte sie, trotz ihrer Konsistenz auch Schmerzen verspüren. Obwohl sie hart auf den Boden stürzten und beinahe in den Fluss fielen, gab der Luchs nicht nach und hielt fest. Plötzlich löste sich die Substanz zwischen seinen Zähnen auf, begleitet von einem Geräusch, der dem einer Windböe glich. Das Wesen verschwand… es war wahrscheinlich nicht mehr am Leben… sollte es das je gewesen sein.

Die angeschlagene und sehr erschöpfte Raubkatze lag schnell atmend da und bewegte nur die Augen, um sich umzusehen. Der Jäger, der alles im benommenen Zustand mit ansah, konnte seinen Augen nicht glauben. Doch er wusste auch nicht wie er diese Lage beurteilen sollte und sein Gesicht blieb ausdruckslos…

Kurze Zeit später raschelten die Büsche und andere Jäger eilten herbei. Sofort liefen zwei von ihnen zu ihren am Baum gelehnten Kameraden und halfen ihm auf. Währenddem wandte der geschockte Mann noch mal seinen Kopf in Richtung des Luchses. Zwei andere Jäger umkreisten das Tier bereits, hielten es wahrscheinlich für den Verantwortlichen und hoben ihre Speere um zum Stich auszuholen.

„Nein! Er hat mir geholfen… lasst ihn!“ rief der geschwächte Jäger und musste aus Kraftmangel wieder seinen Kopf senken. Die anderen schauten sich zuerst irritiert an, respektierten aber anschließend die Bitte ihres Kameraden und ließen die Waffen sinken…

 

Langsam kam wieder ein Lichtschein in die Dunkelheit… erst wenig, dann immer mehr und je mehr sich die Augen des Luchses öffneten, umso mehr verwunderte ihn seine Umgebung. Das Geplätscher von Wasser war zu hören und die Stimmen vieler Menschen. Dies musste das Dorf des Flussvolkes sein. Gitter aus Bambus störten aber seine freie Sicht. Er war gefangen. Langsam bewegte er seinen Kopf, rollte sich auf den Bauch und blieb vorerst in dieser Haltung, um sich umzuschauen. Die Jäger des Flussvolkes hatten ihn in einen Käfig eingesperrt, weil sie dem Tier anscheinend noch misstrauten.

„Edir!“ rief eine männliche Stimme von links, außerhalb des Sichtsfelds des Tiers.

„Dein Freund scheint aufgewacht zu sein.“ setzte der Rufende fort. Schritte waren von rechts zu hören. Jemand näherte sich dem Käfig und war nach kurzer Zeit dort. Er ging in die Hocke um die Raubkatze besser sehen zu können und betrachtete sie mit einem respektvollen Blick. Es war der Jäger, den der Luchs gerettet hatte. Sein Name war Edir. Ein Mann mit Kinnbart und langem braunen Haar, welches zu beiden Seiten runter hing. Seine Züge und die entstandenen Falten in seinem Gesicht verrieten, dass er jemand war, der gern und viel lachte. Seine Augen hatten was Ehrliches. Dieser Mann schien ein gutes Herz zu haben, was wohl viel mehr wert war, als das gut verarbeitete Leder, welches er um die Hüfte und den Oberkörper trug. Wie die meisten Männer im Stamm, war auch er sehr kräftig gebaut, was wohl das Ergebnis vieler Arbeit im Dorf und bei der Jagd war. Der Luchs regte sich nicht und erwiderte nur Edirs Blick. Er konnte die Gesinnung eines Menschen erahnen und deren Vorhaben gut einschätzen und diese Durchschaubarkeit war eine der Fähigkeiten, welche die Meditatoren dem Tier bereits nachsagten. „Du kannst mich verstehen, oder?“ fragte Edir vorsichtig, als hätte er schon mal von dem Tier gehört. „Ich will dir für deine Hilfe danken. Nur deswegen lebe ich noch. Ruhe dich noch etwas aus, ich werde dich in Kürze rauslassen.“, dann stand er langsam auf und ging über eine kleine Brücke in Richtung eines Gebäudes aus Holz, welches vom Innern des Käfigs aus noch erkennbar war.

 

„Wie du schon selbst sagtest, warst du nicht ganz bei Bewusststein. Wir wissen nicht genau, wer oder was dich angegriffen hat. Doch ich bin gegen die Freilassung dieses Tiers!“ kam es aus dem Munde von Asmoa, dem Häuptling des Flussvolkes. Er war ein alter Mann mit langem weißen Haar und einem Vollbart. Im Grunde war er sehr weise und betrachtete die Dinge immer aus einer neutralen Perspektive, doch im Gegenzug konnte er manchmal auch sehr dickköpfig sein, wenn es um die Sicherheit des Dorfes oder eines Angehörigen ging. „Ihr habt Recht, ich weiß nicht was es war. Doch dass es nicht der Luchs war, weiß ich mit Sicherheit. Er half mir sogar mit letzter Kraft“ wiederholte Edir. Der Häuptling schaute zum Boden und gab laut denkende Laute von sich und grummelte vor sich hin. „Du bist einer unserer besten Jäger, Edir. Du weißt, ich vertraue dir und deinem Fachwissen. Wenn du der Meinung bist, der Luchs ist für die Menschen des Dorfes ungefährlich, so lasse ihn frei“ gab Asmoa endlich nach und bevor Edir richtig lächeln konnte, fügte er noch hinzu „aber wehe er fällt unser Vieh an!“

„Das wird er nicht!“ gab Edir zurück, lächelte und verschwand wieder aus der Hütte mit eilenden Schritten. Als er dem Käfig näher kam, taumelten sich bereits Kinder davor, fünf an der Zahl und machten sich einen Spaß daraus vor dem Tier Grimassen zu schneiden. Zwei von ihnen taten so, als wären sie selbst gefährliche Tiere und die anderen saßen nur da und vergnügten sich über dieses Theater. Der Luchs selbst allerdings lag nur wie gehabt auf dem Bauch und verfolgte alles nur mit der Bewegung seiner Augen. Plötzlich hob er den Kopf in den Nacken und riss beim Gähnen das Maul auf. In diesem Moment schraken die albernden Kinder zurück, beide stolperten und landeten auf ihrem Hinterteil. Ein Lachen näherte sich von hinten und die Kinder erschraken abermals. Nun standen sie alle schnell auf und liefen mit panischen Gesichtern in Richtung ihrer Wabas (der aus Wasser und Baum zusammengesetzte Name der Wohnzelte aus Holz). Das Lachen kam von Edir, der nun am Käfig angekommen war und sich vor dem Luchs auf die Fersen setzte. Er schaute das Tier mit einem dankenden Blick in die Augen und war überrascht wie ruhig das Gemüt des Luchses doch war. Wie ein Mensch erwiderte er den Blick der Jägers, einzig sein rechtes Ohr zuckte dabei ein bisschen. „Stell jetzt nur keinen Unfug an.“ sagte Edir, während er den Riegel des Käfigs löste. Das Bambusgitter ging auf und Edir entfernte sich einen Schritt, als er wieder auf die Beine kam. Der Luchs erhob sich langsam und trat erst mit der einen, dann mit der anderen Pfote aus dem Käfig. Endlich in Freiheit, streckte er sich und schüttelte anschließend sein Fell durch. Jetzt konnte er mit einem Blick zur Seite sehen, wie das Dorf aufgebaut war oder besser gesagt, worauf. Denn das gesamte Dorf befand sich auf einer hölzernen Plattform mitten auf dem breiten Fluss, der von dicken Pfeilern getragen wurde. Da die Breite des Flusses wirklich enorm war, war an den Uferseiten noch genügend Platz für Brücken, welche die Plattform mit dem Ufer verbanden und nach Belieben eingeholt werden konnten, was nachts der Fall war. So war das Dorf durch die Wächter und auch mechanisch vor Eindringlingen geschützt. Auch der Käfig, indem der Luchs eingesperrt war, stand als Vorsichtsmaßnahme am Ufer und nicht im Dorf. Auf der Plattform gab es in der Mitte einen Versammlungspunkt, an dem auch öfters ein Markt abgehalten wurde und drum herum standen in guten Abständen die Wabas der Bewohner. Asmoa hatte das Größte unter ihnen. Edir entgegen lebte mit seiner Frau und seiner Tochter etwas weiter abseits des Zentrums. Auf der Strömungsseite war noch ein Schutzwall gegen stärkere Regentage errichtet worden, damit das Dorf nicht von größeren Wassermengen überflutet werden konnte. Der Stamm trug somit nicht umsonst den Namen Flussvolk. Der Luchs nahm seinen Weg mit uneiligen Schritten Richtung Wald auf und wurde auf halben Weg noch mal durch Edirs Worte angehalten.

„Mach’s gut, Lynx…“ lauteten diese und der Luchs drehte dabei den Kopf in seine Richtung. Er hatte es akzeptiert… sein Name war nun Lynx.

 

Nun war er wieder frei und konnte seines Weges gehen. Der Falle entkommen und mit dem Wissen, den angriffslustigen Geist besiegt zu haben, ging Lynx mit ruhigen Schritten durch den Wald. Es war der Wald der tausend Vögel, der westlich des Dorfes lag. Er erstreckte sich fast durch den gesamten mittleren Teil der Insel, eingegrenzt durch den Fluss im Osten, auf deren anderen Uferseite ein kleinerer Wald mit Steinsteppe lag, sowie durch eine weite Grassteppenlandschaft im Westen. Im Norden war das große Gebirge, auf denen auch die Meditatoren hausten und sich der große Vulkan befand, der in letzter Zeit sehr unruhig zu sein schien. Dem Namen gerecht werdend, erfüllte den Wald das Singen tausender Vögel und die Unruhe der letzten Nacht war vorbei. Der Wald war leicht karibisch angehaucht und beinhaltete Bäume verschiedenster Arten. Große Bäume, mit sich weit erstreckenden Ästen und Palmen und Rankengebüsch in verschiedenen Größen. Der Weg, auf den Lynx ging, war geebnet worden. Da dieser Pfad des Öfteren gegangen wurde, entstand daraus eine Art Wanderweg. An diesem Tag war der Wald nicht mehr so aufgescheucht und auf eine unheimliche Art unruhig, wie in der Nacht zuvor. Ob das wohl etwas mit dem Verschwinden des Geistes zutun hatte?

Trotz der angenehmen Ruhe, abgesehen von dem Vogelzwitschern und dem Grillenzirpen, fühlte Lynx sich nach einer Weile des Gehens jedoch beobachtet. „Uh-huu!“ erklang es plötzlich aus den Bäumen. Der Luchs schaute rauf, suchte, doch konnte nichts erkennen. Er fing an zu laufen und wollte nur aus diesem Gebiet kommen. Während des Laufens schaute er zurück, beim besten Wissen fiel ihm nicht ein, was das sein konnte. Was er aber wusste war, dass alles was in letzter Zeit passierte, nichts Gutes war. Als er seinen Kopf wieder nach vorn drehte, tauchte plötzlich etwas Großes und Gefiedertes vor ihm auf einem überhängenden Baumast, der den Weg kreuzte, auf. Vor Schreck bremste Lynx mit allen Vieren und rutschte dabei noch etwas auf dem Hinterteil auf dem Laub vorwärts. Angehalten, erblickte er die Gestalt auf dem Ast. Es war eine Eule. Und nicht nur irgendeine, diese Eule kannte er, sie war ein Schutzgeist der Vögel. Ein weiser Repräsentant und Beschützer für diese Tierart, wie die Meditatoren für die Menschen, nur das diese keine Geister waren. Sein weißes Gefieder glänzte in hellen Silbertönen und die blauen Augen gaben einen erhobenen, fast beruhigenden Blick von sich. Die Federn auf Urus Kopf stiegen empor und bildeten beinahe eine Krone um ihr Haupt.

„Wieso suchst du mich auf, Uru?“ sprach Lynx in Gedanken zu der Eule, ohne dabei seine Lippen zu bewegen. Die Tiere der Insel waren die einzigen Wesen, die sich auf diese Weise unterhalten konnten. Daher verstanden Menschen sie nicht, wussten aber von ihrer Weisheit. Bestimmten Stämmen, wie das der Steppe interessierte das jedoch wenig, sie gingen ihren eigenen Interessen, ohne Rücksicht oder Respekt vor anderen Lebewesen nach. „Ich hörte, du trägst nun einen Namen?“ erwiderte Uru die Frage von Lynx mit einer Gegenfrage. Er wiederum schwieg ein paar Sekunden bevor er antwortete „ein Mensch vom Flussvolk nannte mich so. Ich halte ihn für gutherzig.“

„Das ist die dir gegebene Gabe, Menschen zu verstehen und hinter ihre Schleier sehen zu können. Das spricht sich rum. Und das ist auch der Grund, weshalb ich dich um etwas bitten möchte, Lynx…“ Urus Augen sahen nach diesen Worten erwartungsvoll zu Lynx hinunter. Man könnte meinen, sie erwartete eine Antwort, bevor sie die Bitte überhaupt aussprach. „Es geht um ein Buch der Menschen, es wird „Buch der Geister“ genannt. Es soll Mitschuld an der Unruhe der letzten Nacht haben.“ fuhr Uru fort. „Du weißt, was es mit der Nacht auf sich hatte? Dann weißt du auch was über dieses Wesen?“ fragte Lynx mit dem Blick nach oben gerichtet. „Leider nein. Ich konnte nur eine Auseinandersetzung zwischen Menschen des Erd- und des Steppenvolkes beobachten. Sie stritten um dieses Buch. So wie ich es verstand, gehört es dem Erdvolk und wurde vom Steppenvolk gestohlen. Die Männer des Erdvolks gewannen den Kampf und holten das Buch wieder zurück.“

„Und was genau habe ich nun damit zutun? Ich bin hungrig und meine Pfote…“ setzte Lynx an und wurde dabei sogleich wieder von Uru unterbrochen: „Darum kannst du dich gleich kümmern, Lynx. Ich möchte nur, dass du dich ins Dorf des Erdvolkes schleichst, das Buch an dich bringst und es den Weisen des Bergvolkes bringst. Besser sie haben es, bevor es erneut von den Menschen der Steppe gestohlen wird und ein weiteres Unheil geschieht.“ Auch wenn der Luchs nicht ganz damit einverstanden war, dass ihm diese Aufgabe zugewiesen wurde, nickte er und setzte zum Rückweg an. Denn der Ort, den er nun aufsuchen musste, befand sich genau auf der anderen Seite des Flusses, auf dem sich das Dorf von Edir befand. Wenn Uru ihm etwas auferlegt, so war es ganz bestimmt von hoher Wichtigkeit, da war sich Lynx sicher. Er ließ sich zwar schnell überreden, doch bedeutete dies nicht, dass er es sofort tun würde. Im Moment war ihm sein knurrender Magen wichtiger. Sobald er von Urus Blickfeld verschwunden war, die übrigens weiterhin auf dem Ast saß und Lynx hinterstarrte, bog er vom Weg ab und lief links in den Wald hinein. Die Augen stets auf Beute ausgerichtet ging er mit ruhigen, fast bodenlosen Schritten durch das dichte Geäst und erwartete im jeden Augenblick einen Hasen oder ein Reh zu erblicken. Auch wenn Lynx das Leben sehr schätzte, so musste auch er irgendwann essen. Das wiederum hieß töten, schnelles Töten.

Lange schlich er durch den Wald, ohne auch nur eine Spur von einem Essen auf Beinen. Konzentriert auf seiner Jagd kamen ihm nebenbei Gedanken auf. Gedanken über die Vorfälle der letzten Nacht und dem Wesen aus Rauch und Nebel, noch nie hatte er so was jemals gesehen, geschweige denn berührt. Es war ein kaltes Gefühl, Lynx begriff nicht ob überhaupt Leben durch dieses Wesen floss. Die Meditatoren konnten bestimmt etwas dazu sagen, jedoch würde Lynx dort erst hingehen, wenn er das Buch hatte. Das Buch… wie sollte ein Luchs ein Buch transportieren? Was, wenn es zu groß für sein Maul war? Und mit Sicherheit gab es Menschen, die es beschützten. Es schien, als musste Lynx das Buch stehlen… „Was bist du denn für ein Versager?!“ kam es plötzlich von einem der Bäume über Lynx, der aufschrak und nach oben blickend die Äste absuchte. Dann sprang etwas auf einen Ast auf den anderen, mehrere Zweige und Blätter bewegten sich noch. Es sprang wieder umher und schließlich hangelte es an einem Ast über Lynx. Es war ein Kapuzinerweibchen.

„Ich meine dich! Ein Hase läuft die ganze Zeit um dich herum und du bemerkst es nicht mal. Bist du nun ein Jäger oder ein Kätzchen?“ sagte das Äffchen und bewegte dabei stets den Kopf zu beiden Seiten. „Verschwinde Jaila, ich brauche Zeit für mich“ gab Lynx zurück. „Zeit für dich? So wie in letzter Nacht, du warst ja auch wirklich überall im Wald zu hören, was war denn in dich gefahren?“

„Das könnte ich zurück fragen. Was war mit euch, es war absolut niemand da um mir zu helfen! Ich saß in einer Menschenfalle fest“.

Jaila bewegte wieder schräg den Kopf mit einem Zucken, als verstünde sie erst jetzt, was Lynx widerfahren war. Mit einem Schwung zu einem niederen Ast sprang sie schließlich auf seinen Rücken, legte sich auf den Bauch und streichelte mit langgestreckten Armen sein Fell. „Armer Luchs, das wusste ich nicht. Ich hoffe du hattest keine Angst, mein Großer“ entschuldigte sich Jaila. Lynx drehte den Kopf zur Seite, versuchte Jaila dabei anzusehen, was ihm aber sicherlich schwer fiel: „Weißt du vielleicht etwas über die letzte Nacht?“ fragte er.

„Nein, nur dass es so laut und windig wurde. Alle anderen hatten Angst, ich versteckte mich nur mit, damit nicht auffiel, dass ich keine hatte“ erwiderte Jaila, noch immer das weiche Fell unter ihr streichelnd. „Du bist ja so knuffig!“ gab sie anschließend hinzu. „Ich wollte dich nur warnen, meine Brüder stehlen in letzter Zeit wieder alles was sie finden. Verzerre dein Essen besser schnell“ sagte sie mit erhobenen Kopf, kam auf die Füße und sprang auf einen Baum in der Nähe und blickte beim Hochklettern noch einmal zurück „war dein Fell schon immer so flauschig? Ich wünschte, ich wäre auch so weich…“ und kletterte weiter, bis sie irgendwann in den Blättern verschwunden war. Lynx sah ihr noch so lange nach und versuchte sich dann wieder seiner Jagd zu widmen. Die kleine Affendame kannte Lynx schon fast sein ganzes Leben lang. Ebenso ihre Brüder, die wohlgemerkt nicht immer ganz richtig im Kopf waren, wie alle dachten. Einmal haben sie die Pferde des Waldvolks gegeneinander aufgescheucht, indem sie den wildesten darunter blättrige Lianen um die Augen banden, während sie schliefen. Als die Mehrheit der Menschen versuchte, die Tiere zu beruhigen und alle sich hauptsächlich auf den Vorfall konzentrierten, mussten sie später mit Entsetzen feststellen, dass ihr Vorrat an Früchten fort war. Ein anders Mal stahlen sie ein Tigerjunges und flüchteten vor seiner zornigen Mutter. Paki und Chila und trugen den kleinen Tiger fort, während Giro die Mutter ablenkte und durch den Wald führte. Irgendwann waren die drei Affen weg und die Tigermutter stand allein da und vernahm nur den Ruf ihres Kindes. Hastig folgte sie der Stimme und nur ihrem Instinkt folgend, ahnte sie nicht, dass ihr Weg sie durch einen hohlen Baumstamm führte, durch den sie sich gedankenlos durchzuquetschen wagte. Nur leider erfolglos. Sie konnte ihr Tigerjunges am anderen Ende der Baumhöhle sehen, wie es da saß und nach seiner Mutter rief, doch durchkommen konnte sie dank ihrer Körpermasse nicht. Sie steckte fest.

Das war der Moment für die drei Affen, um sich von hinten an die Tigermutter zu schleichen und sich an ihr Fell zu schmiegen. Das war der Grund des ganzen. Aus irgendeinem Grund liebten diese Äffchen es, sich an dem weichen Fell anderer, größerer Tiere zu kuscheln. Nichts desto trotz befreiten sie die Tigerin aber schließlich aus ihrer Falle und verzogen sich. Ihre Taten schadeten nie ernsthaft, jedoch wurden die Drei trotzdem verabscheut und gemieden, da sie eben nur Unheil stifteten. Lynx selbst war bisher nur des Essens beraubt worden, doch er konnte sich oft schnell etwas Neues zum Beißen besorgen. Das Dümmste, was ihm jetzt widerfahren konnte, wäre, wenn er nichtsahnend mit dem Buch durch den Wald schritt und Jailas Brüder ihm dieses wichtige Objekt wegstibitzen würden. Das war nun eines der Dinge, auf die Lynx am meisten achten musste. Klick, das Unterholz gab auf einmal ein Geräusch von sich. Lynx Kopf drehte sich augenblicklich in selber Richtung und siehe da: ein sich eben selbst verratender und noch nichts ahnender, kleiner, weißer Hase. Lynx setzte zum Sprung an.

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